Letztes Telefonat

Ich hasse es. Jeder Arzt hasst es und hat Angst davor. Das Telefonat, um Angehörigen mitzuteilen, dass ihr Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Onkel, Tante, Opa oder Oma gestorben ist. Das letzte Telefonat.

Es ist immer sehr kurz. Meist nur 30 Sekunden, maximal eine Minute um Unfassbares zu sagen und die Welt für eine kurze Zeit stillstehen zu lassen.

Ich nehme mir zum Telefonat die Akte mit. Papier ist gut, das gibt mir Halt. Dann suche ich mir ein unbesetztes Arztzimmer. Ich brauche Ruhe und kein hektisches Monitorgepiepse im Hintergrund.

Ich wähle die Nummer. Insgeheim hoffe ich, dass keiner dran geht. Aber ich habe auch Angst davor, dass keiner ans Telefon geht.

Schlimm ist es Nachts anzurufen. Zu wissen, dass ich die Tochter oder den Sohn aus dem Schlaf reiße. Man hört am anderen Ende ein verschlafenes „Hallooo??!“ Ich hole dann tief Luft und ergebe mich ins Unvermeidliche.

Schlimm ist es dann eine Pause und einen lauten Schrei zu hören. Dann haltloses Weinen. Ich sitze am Schreibtisch und kann nichts machen.

Ich frage immer vorher: „Wo sind Sie gerade? Sitzen Sie im Auto?“ Nicht auszudenken, was passiert, wenn.

Manchmal kommen auch seltsame Reaktionen:

Wenn ich frage: „Möchten Sie heute noch kommen und Abschied nehmen?“

Sohn: „Nein, wozu? Ich wohne doch 30 km weit weg!

Ich sage dann nichts. Weil mir dazu nichts einfällt.

Neue Schuhe

Heute auf der Intensivstation. Ich mache ein Konsil bei einem 36jährigen kardiologischen Patienten.

Er hat beim Grillen am See plötzlich Kammerflimmern bekommen und musste reanimiert werden. Begonnen mit einen Laienreanimation, Dauer insgesamt unklar.  Im Schädel CT  hat er ein ausgedehntes Hirnödem. Prognose schlecht, zwei Kinder, verheiratet. Das ganze tragische Elend.

In Bett acht liegt der Patient. Jung, braungebrannt, komatös, beatmet. Sorgfältig ausrasierter Kinnbart. Auf dem Arm ein großes Tribal Tattoo, nicht ganz fertig gestochen, ein Teil fehlt wohl noch.

Die braunen Augen sind leicht geöffnet, allerdings keine adäquate Reaktion.

Auf Schmerzreize ebenfalls keine Reaktion, an den Beinen hat er  schon eine beginnende Spastik.

An den Füßen trägt er nagelneue schwarz-rote Adidas Sneaker. Die Ehefrau hat sie ihm mitgebracht. Die Sohlen der Schuhe sind ganz sauber, er ist noch nie damit gelaufen. Größe 47. Ein Deichmann Schild mit dem Preis klebt noch drunter. Die Füsse erscheinen im Vergleich zum übrigen Körper riesig und sind fast so lang wie das Fußbrett hoch ist.

Beim Untersuchen spüre ich hinter meinem Rücken eine Bewegung. Seine Ehefrau ist gekommen. Sie will unbedingt bei der Untersuchung  dabei sein. Und lässt sich auch nicht vom Pflegepersonal davon abhalten. Als sie sieht, dass ihr Mann auf mein grobes Kneifen nicht reagiert, weint sie fassungslos.

Dann sieht sie die Preisschilder unter den großen braunen Sohlen. Und knibbelt sie nervös bis auf letzte Fitzelchen weg.

Als ich gucke, lächelt sie unter Tränen: “ Meine Mutter hat immer gesagt,  Preisschilder unter den Sohlen bringen Unglück.“ 

Ich sage nichts, mir fällt nichts ein.

Racket smashing

Darf ich beim Badminton meinen Schläger wutentbrannt wegwerfen, wenn ich unnötige dumme Fehler mache?

– Nein,  denn ich bin erwachsen. Damachtmandasnichtmehr.

– Nein, denn ich bin kein John McEnroe.

– Nein, denn mein heißgeliebter Forza Schläger mit pinkfarbenen Mädchengriffband kann kaputt gehen.

– Nein, denn die vier vom Nebenfeld gucken dann so blöde mit hochgezogenen arroganten Augenbrauen rüber.

– Nein, denn es gibt Alternativen zum Schläger werfen. Welche bloß?

Ja, denn ich bin wütend.

– Ja, denn ich bin erwachsen.

– Ja, denn ich McBära.

– Die einzige Alternative zum Schläger werfen ist: Trainer werfen.

–  Lasse doch gucken vom Nebenfeld!

Übrigens: Niemand ist so konsequent im Racket smashing wie Marcos Baghdatis!

Frau W.

Heute in der Röntgenbesprechung ging mein Funk. Intensivstation. Der Oberarzt der Unfallchirurgen am anderen Ende.

OA Knieflicka: “ Dr. La Bära, ich habe hier eine 85 jährige Patientin. Frau W.“

Ich:  „Ja, was ist mir ihr?“

OA Knieflicka: “ Sie ist gestern im Altenheim aus dem Fenster gesprungen. Und jetzt ist sie komatös. Schädel CT ist okay, Keine Blutung, kein Hämatom, keine Fraktur. Auch die anderen Untersuchungen sind ohne richtungsweisenden Befund. Vielleicht hat sie auch noch  Benzos zusätzlich genommen. Wissen wir noch nicht.“

Ich gehe auf die Intensivstation:

In Zimmer 5 liegt Frau W.

Sie ist blaß, mager, atmet schnaufend, aber spontan mit guter Sättigung. Sie reagiert nur auf Schmerzreize mit Anziehen der Beine. Daneben sitzen die schockierten verweinten Angehörigen. Der Sohn und die blonde Schwiegertochter.

Der Sohn erzählt stockend:

„Meine Mutter ist seit drei Monaten im Heim. Sie hat eine leichte Demenz. Teilweise war sie ganz klar. Aber zu Hause hat es nicht mehr gut geklappt. Sie hat mehrfach den  Herd angelassen und sich nicht mehr gewaschen. Dann ist sie ins Heim gekommen. Sie hat viel geweint. Aber auch schon, als sie noch zu Hause war. Sie hat gemerkt, dass etwas nicht mit ihr stimmt und sie sich verändert.

Es war ja nicht nur das Gedächtnis. Sie hatte ihre ganze Lebenslust verloren.  Medikamente gegen Depressionen haben sie nur durcheinander gemacht. Es hat nichts geholfen. Seit drei Wochen wollte sie nicht mehr. Sie hat kaum noch gegessen,  ihre Tabletten nicht mehr genommen. Kaum noch gesprochen. Und wenn dann nur vom Tod. Und das sie nicht mehr will.“

 Er weint wieder, die Tränen laufen endlosendloslos. Dann fummelt er zittrig sein smartphone aus der Hosentasche. Er zeigt mir Bilder, die er aufgenommen hat. Das Fenster, dann den Boden. Mit dem Ellenbogen hat sie im Fallen noch eine Laterne abgerissen.  Die hat er auch fotografiert.

Seine Frau erzählt weiter:  „Heute Nacht ist die Schwester im Heim noch mit ihr zur Toilette gelaufen. Nach drei Minuten ist sie dann gucken gegangen. Da stand das Fenster sperrangelweit auf. Und sie lag unten auf dem Betonboden.  Die Schwester ist schnell nach unten gelaufen und hat sie laut angerufen. Da hat sie die Augen kurz aufgemacht, gelächelt und gefragt: Bin ich jetzt im Himmel?“

Nein, Frau W. Intensivstation, Bett 5.

Ob ich wirklich

..so beliebt in der Welt bin, wenn ich nur noch hinter 5 cm dicken  Panzerglas sprechen kann?

Ob ich wirklich ein Freund bin, wenn ich nur mit einem Auto fahren kann, das „The beast“ heißt, 1000 kg wiegt und die Türen mindestens dreißig cm gepanzert sind?

Ob ich wirklich ein Freund bin, wenn mich 8000 Polizisten schützen müssen?

Ob ich wirklich beliebt bin, wenn ich vor 4000 ausgesuchten handverlesenen berufsklatschenden Menschen sprechen kann, die auf Tribünen sitzen, die an Kommunismus erinnern?

Ob ich wirklich beliebt und unter Freunden bin, wenn ich zu Besuch komme und keiner mehr auf seinen eigenen Balkon  kann?

Ob ich wirklich ein guter Freund bin, wenn ich da noch von Freiheit rede?

Wenn das Freunde und die neue Freiheit ist, good night Mr. President.

Der Chef geht

Bald ist der Chef weg. Nur noch wenige Tage, dann geht er in Rente.

Keine ultralangen Frühbesprechungen  am Montag mehr mit ihm.

Kein langes Quatschen am Freitagmittag über unsere Wochenendpläne. Er ins Museum nach Essen, ich ins Kino nach Mülheim oder umgekehrt. „In welchen Film? In welche Ausstellung? Wo kann man gut essen gehen in Essen, Frau Doktor? Chef, ich habe Dir doch mal einen langen Zettel mit Tips geschrieben. Hmmm, den finde ich jetzt nicht, Frau Doktor. Och Chef…“

Kein freundliches „Guten Morgen Frau Doktor!“, dass er mir jeden Morgen durch die offene Verbindungstür ruft.

Kein Verdammt noch mal, wo ist mein Password?!“  Unter der Tastatur auf dem kleinen Schmierzettel, Chef!

Nie wieder seine Zahnlücke sehen, wenn er lacht.

Nie wieder seine langsamen, etwas schleppenden  Schritte auf dem Krankenhausflur hören.

Keine Dienstpläne  a´la Chef  „Die ersten drei Wochen im Februar/März/April/Mai bin ich weg, aber dafür mache ich Weihnachten und den 18. Juni.“… mehr mit ihm machen.

Nie wieder den Satz hören: „Der Irrsinn tanzt“ , wenn er sich über Politik oder Angehörige oder beides aufregt.

Nie wieder den Satz von ihm hören, wenn ich mich über Politik oder Angehörige oder beides  aufrege: „Ach Frau Doktor, es  fließt so viel Wasser den Rhein runter“ . Ja, Chef, ich weiß. Trotzdem.

Nie wieder  mit ihm in der Cafeteria essen und fassungslos staunen, wenn er den Pfefferstreuer aufschraubt und den Pfeffer schichtenweise!  über sein Essen streut. Ohne vorher zu probieren.

Nie wieder seine Butterbrottüte mit Rosinenstuten und  Leberwurst drauf auf seinem Schreibtisch liegen sehen.

Ich hoffe, er lässt mir das Bild mit dem Kühlschrank am holländischen Strand da, das an seiner Wand hängt.

Und ja, ich werde auf seiner Verabschiedung heulen. Ichkennmich.