Lappenland

Immer häufiger denke, dass ich nicht in Deutschland sondern in einem ängstlichen rückgratlosem Lappenland lebe, das immer mehr konformiert wird. Und in dem wichtige Dinge unwichtig und unwichtige Dinge wichtig geändert werden.

Donnerstag beim Zahnarzt: Ich unterschreibe sechs DIN A4 Seiten zum Datenschutz, damit ich es erlaube, mich mit meinem Namen aufzurufen. Nach der örtlichen Betäubung nötigt mich die ängstliche Arzthelferin 10 Minuten in der Praxis zu warten. Sie dürfe mich nicht gehen lassen, man sei mal verklagt worden, Sie stellt einen Wecker auf 10 Minuten, verschwindet in einem Behandlungszimmer. Ich verschwinde auch, und zwar aus der Praxis. Ziviler Ungehorsam und so. Hatte ich mir ja vorgenommen für 2019.

Auf der Station: Ein Patient ist mit seinem Arztbrief nicht zufrieden, man habe unter der Rubrik Hilfsmittel nicht seine Hörgeräte eingetragen, und er wohne im 2. Stock, nicht im dritten. Er wolle es im Brief geändert haben. SOFORT! Das er die Lungenembolie knapp überlebt hat interessiert ihn nicht so sehr. Mein vorsichtiger Lappenkollege ändert es. Man weiß ja nie.

Vor Zimmer 5 bekomme ich eine Diskussion mit:

Die Servicedame fragt die Patientin nach Nachtisch, zur Auswahl Krokantpuddig, rote Grütze oder frisches Obst. Madame wünscht frisches Obst, aber nur Gala Äpfel, was anderes verträgt sie nicht. Auch keine Bananen, keine Weintrauben. Entweder das oder sie würde sich beschweren, man kenne ja die Geschäftsführung. Der armen Lappendame steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Sie besorgt die Äpfel, woher auch immer.

Und weiter gehts im Lappenland: In Bochum gibt es jetzt eine kilometerlange Hauptstraße, auf der man wegen „Luftverschmutzung“ nur 30 fahren darf. Lauter ängstliche Lappen zockeln jetzt hochtourig im 2. Gang daher (denn natürlich hat man sofort einen Blitzer dort installiert).

Im Internet verfolge ich eine Diskussion, in der ein Bild von einer kahlköpfigen Amsel gepostet wurde, mit der Frage, was dem Vogel wohl fehlt. Natürlich einige witzige Antworten. Aber auch gefolgt von aggressiven posts, das man nicht über kahlköpfige Vögel lachen solle. Die lachenden Lappen verstummen ängstlich. Der thread wird geschlossen.

Nun ja. Ich fahre im Lappenland Diesel, trinke böse Milch, sitze auf einem Stuhl, trinke Alkohol, esse gerne Steak.

Und ich werde kein Lappen, versprochen!

Räume

In Krankenhäusern gibt es irgendwie immer zu wenig. Zu wenig Betten, zu wenig Personal, zu wenig Zeit. Und zu wenig Räume.

Ich muß dringend ein Vier Augen Gespräch mit Katja, der Stationsleitung führen. In meinem Büro sitzen vier PJler und besprechen einen Patienten, in Katjas Raum haben es sich die Schüler gemütlich gemacht und bereiten eine Pflegeplanung vor. Wir versuchen in den Therapieraum auszuweichen, zu spät, dort ist die Frühstücksgruppe am Start.

Dann halt der Pflegeaufenthaltsraum, dort hocken sieben Therapeuten, Frühbesprechung.

Wir entern die Küche. Tür zu, nach 10 Sekunden klopft es herrisch. Ein Patient will unbedingtundjetztsofort Cappuccino (nebenbei es ist eine Personalküche und es gibt einen Automaten auf dem Flur). Wir drücken ihm den Cappucino in die Hand, sprechen. Nach zwei Minuten wird die Tür aufgerissen, eine Angehörige drängelt sich rein. Ich weiche vor den Geschirrspüler aus, hasse es, wenn Menschen zu sehr in meinen Bereich kommen. Wir stehen fast Nase an Nase. Sie guckt uns fordernd an und auf mein Namensschild.

Sind Sie die Stationsärztin???? Nein, da steht Oberärztin drauf, mach die Klüsen hinter deiner Gucci Brille auf.

Meine Schwester soll morgen entlassen werden?

Wer ist ihre Schwester? Kristallkugel habe ich nicht. Nach langem Hin und Her werde ich sie los.

Katja und ich flüchten in den Medikamentenraum, nach fünf Minuten kommt der Fensterputzer und putzt und putzt und putzt.

Wir geben auf. Vielleicht morgen um 10 Uhr? In der Umkleide?

Unsere Gäste

Krankenhäuser sollen kundenorientiert arbeiten. Die Verwaltung hat eine neue Nomenklatur verordnet. Es sind nicht Patienten, es sind nicht Kunden, es sind *Trommelwirbelundtusch* Gäste!

Mir fallen da spontan folgende Angehörige von unseren Patienten, Kunden, Gästen ein.

Sohn: Angetan mit einem oliven Parka, versehen mit zu viel Tagesfreizeit. Er schlägt um 14 Uhr auf zu Beginn der dünnbesetzen Spätschicht.

Ich möchte die Schwester sprechen, die die Klingel von Herrn Maier bedient!!“

Iris (2 Telefone in der Hand, eine OP abholen, die Schellen auf dem Flur leuchten wie ein Tannenbaum): „Ja, ich bin das.“

Sohn: Klappt den speckigen Parka auf. Darunter hat er eine Flasche Fiege Pils und ein Bierglas versteckt.

„Ich möchte, dass Sie Herrn Maier das Bier und das Glas bringen. Ich gehe dann solange eine Etage höher, komm zurück und tue dann überrascht. Wer hat Dir denn das Bier gebracht? Ist das nicht lustig??!!“

Ist es. Nicht. Iris reißt der nicht mehr vorhandene Geduldfaden. Weist den Gastsohn darauf hin, dass wir nicht beim Laientheater sind.

Ich weiche auf meine andere Station aus. Sitze vorne im Stützpunkt. Ein Fehler, ich weiß. In der Nähe der Aufzüge taumeln die Angehörigen direkt auf den Stützpunkt zu wie die Motten ans Licht und stellen tumbe Fragen. Wo ist Zimmer 1,2,3,4,5,6? Wo ist das Klo, der Arzt, das Wasser? Der Sinn des Lebens?

Und so kommt es dann.

Eine Gruppe Silbrighaariger steigt aus. Der Anführer ist eine Frau mit rosa Steppjacke. Steuert herrisch auf mich zu.

Wo kann man hier Gitarre spielen?“ (Grüßen wird auch von Älteren überbewertet).

Ich denke ja immer, ich hätte schon alles gehört, gesehen, erlebt. Wie man sich täuschen kann.

Natürlich haben wir extra für unsere Gäste ein komplett ausgerichtetes Tonstudio.

Empfehle den Aufenthaltsraum.

Die rosa Steppjacke fragt: „Kann man den Raum noch ein bißchen chic machen? So Deko und so?

Ja klar, wir pumpen eben noch 50 Herzchen Ballons mit Helium auf. Und servieren Muffins.

Alles für unsere Gäste.


Headset

Winterzeit, Vortragszeit. Auch ich muss darf einen Vortrag halten. Diesmal, weil 250 Zuhörer kommen: mit Mikrophon. Ich will meine Hände frei haben, entscheide ich mich für das headset. Habe Angst, dass ich in den Pointer spreche und mit dem Mikrophon ziele.

Ich übe.

Drei Tage vorher: Gehe um 18 Uhr in den Hörsaal. Unheimlich so alleine. Vorlage für einen Horrorfilm. Spreche den Vortrag mehrmal laut ohne Mikro. Videos laufen gut.

Zwei Tage vorher: Gehe um 11 Uhr in den Hörsaal. Treffe mich mit unserem Techniker. Er erklärt mir das headset. Bekomme es nicht in meine wuseligen Haare. “ Frau Doktor, immer von hinten aufsetzen, das lange Mikroteil nach links!“ Ja, es klappt. Versuche es jetzt alleine. Verhake mich wieder in meinen Haaren. Glatze? Das Funkteil muß in die Hose, in die vorderen Taschen. Habe vorne an meiner Jeans keine Taschen, nur hinten. „Nicht vergessen auf Mute stellen, solange Sie nicht reden Frau Doktor!“Okay.

Der Tag: Morgens nochmal in den Hörsaal. Generalprobe. Der Techniker schiebt schon die Stühle um. Ich setze das headset auf. Habe Angst vor dem Techniker zu sprechen. Meine Stimme hört sich seltsam an, höre mich atmen. Rede mich ein. Ende. Mein tollerklassesuperentzückender Techniker klatscht. Und bringt mir eine Flasche Wasser. Adoptiere ihn.

Waage!

New year, new me. Abnehmen ist angesagt.

Wiegetag ist bei mir jeden Dienstag. Folgende Phasen müssen dabei strikt durchlaufen werden.

  1. Die Waage darf niemals verschoben werden! Jeder cm nach rechts oder links verursacht 150 Gramm mehr.
  2. Die Waage muß stets auf der Glückfliese stehen!
  3. Im Erdgeschoß wiegt man mehr!
  4. Vor dem Wiegen: Duschen, durch die verlorenen Hautschuppen ca. 200 Gramm Verlust.
  5. Nach dem Duschen abtrocknen und die Haare schranktrocken fönen. Kein Restwasser im Haar belassen, dieses wiegt ein Pfund.
  6. Die Haare gut bürsten. Verlorene Haare wiegen eine Tonne. Mindestens.
  7. Ohrringe ablegen. Fuß-und Fingernägel schneiden. Dazu muß ich nichts sagen.
  8. Kontaktlinsen oder Brille? Ohne kann ich die Waage nicht lesen. Kontaktlinsen wiegen weniger.
  9. Erst mit einem Fuß v o r s i c h t i g auf die Waage stellen. Dann im Zeitlupentempo den zweiten Fuß dazu. L a n g s a m absetzen. Am Badezimmerfenster festhalten.
  10. Luft anhalten, länger als jeder Apnoe Taucher.
  11. Daraus den Mittelwert bilden.
  12. Beachten! Gebräunte Urlaubshaut wiegt 3 Kilo mehr.
  13. Das Ganze dreimal wiederholen.

Rückblick

Wie war Dein Jahr? Rumpeliger Beginn. D´s Vater ist gestorben, D. war krank. Aber das restliche Jahr rund und erfolgreich, beste Vorlesung gehalten.

Neue Frisur? Nö, nüscht. Wie immer.

Was zum allerersten Mal gemacht? Mir eine Riesen Macke ins Auto gefahren- Ich fand ja, dass es nur ein kleiner Kratzer war. Aber der Werkstattleiter ist fast synkopal geworden.

Was nie wieder machen? Auf der Rotterdamer Strasse in Düsseldorf im Dunklen den verdammten Betonpoller übersehen.

Was immer wieder machen? Indisch essen gehen. Indisch essen gehen, indisch essen gehen. Oder fish and chips mit Curry Mayonnaise. Stundenlang YouTube Videos mit D. gucken und laut mitsingen.

Was ist anders? Ich habe mir ein Kleid gekauft. Und eine Tonne Kontoauszüge abgeheftet.

Wo gewesen? Saltburn by sea, Andalusien. Ostsee. Medica.

Was war das Beste? Schwimmen, wo auch immer. Unterbacher See, Atlantik.

Unwort des Jahres: Jahrhundertsommer. Sowas brauche ich nicht nochmal.

Motto des Jahres: Ich existiere.

Bestes Buch: Der grosse Plan von Wolfgang Scharlau.

Bestes Lied: Falling down (nach dem Vortrag laut aufdrehen und mitsingen)

Getränk des Jahres: Gin tonic in riesigen Ballongläsern.

Vorsätze fürs nächste Jahr: Ich schwör: Ziviler Ungehorsam, Malen, abnehmen, kundenfreundlich und geduldiger sein (obwohl, ich habe schon zwei Tage nicht gehupt). Und den Honda mit 320 PS kaufen.

Wie gesagt

Wie gesagt, wenn Patienten und Angehörige ein Krankenhaus betreten, verlieren sie häufig Manieren und Selbstständigkeit. Oder auch beides.

Ich laufe über den Flur. Sehe eine neue Patientin in der Wartezone sitzen.

Begrüße sie. Kundenfreundlichundso : „Guten Morgen!“

Patientin beguckt mich mißtrauisch: „Brauche einen Friseur.“

Aus den Augenwinkel sehe ich zeitgleich, wie Schwester Iris versucht einen Privatpatienten im Rollstuhl in sein Zimmer zu schieben. Herr Vonundzu klammert sich an der Tür fest, rammt Iris die Ellenbogen in die Seite.

Das sei kein Luxusprivatzimmer! Der Kühlschrank fehlt! Und die Baustelle! Nicht mit ihm!

Weiter gehts im Aufzug (Memo an mich, Treppe ist besser für die Gesundheit und die Nerven).

Ein Ehepaar betritt die Bühne: „Wo müssen wir hin?“

Habe ich eine Kristallkugel? Wir klären, dass es eine Etage höher geht in die Ambulanz. Ich drücke den richtigen Knopf für sie. Die Aufzugtür geht auf. Ich erkläre, dass sie jetzt aussteigen sollen. Das Ehepaar guckt mich fragend an. „Durch die Tür?“

Ja, wodurch sonst? Himmelkruzifix. Meine Geduld besteht aus einem hauchdünnen Faden.

Weiter gehts beim Friseur.

Neben mir sitzt eine Betondauerwelle. Nachdem ich mir sämtliche Berichte von Magenspiegelungen, Darmspiegelungen und Blutzucker anhören musste, wird die Abholung der Dauerwelle organisiert. Die Friseurin telefoniert hinter dem Sohn her. Dann wird die Dauerwelle in die beige Steppjacke gepackt.

Die Friseurin fragt: „Welcher Ärmel zuerst?“ Halstuch wird umgebunden. Der Rollator zurechtgestellt. Und noch ein Tässchen Kaffee mit Keks bis der Sohn da ist.

Der Sohn trifft ein. Möchte auch noch mal eben die Haare geschnitten haben.

Mokiert sich darüber, dass es ein Terminsalon ist. Kundenunfreundlich sei das.

Wie gesagt.